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RadigZ - Radikalisierung im digitalen Zeitalter

RadigZ - Radikalisierung im digitalen Zeitalter

Leitung:  Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier
Team:  Katharina Leimbach, Asbjørn Mathiesen
Jahr:  2017
Förderung:  Bundesministerium für Bildung und Forschung
Laufzeit:  02/2017 bis 08/2020
Ist abgeschlossen:  ja
Weitere Informationen https://radigz.de/

Das Projekt: RadigZ

Das Projekt „Radikalisierung im digitalen Zeitalter – Risiken, Verläufe und Strategien der Prävention (RadigZ)“ war ein Verbundprojekt, in dem Forschende aus den Bereichen Kriminologie, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft interdisziplinär zusammenarbeiteten. Gemeinsames Ziel war es, die Hintergründe und Folgen von Radikalisierungsprozessen und extremistischer Gewalt einschließlich der Folgerungen für die Prävention aufzuhellen; ein besonderer Akzent sollte auf den Einflüssen des Internets liegen. Bei einem Blick auf die Präventionspraxis herrschte zu Beginn der Projektlaufzeit im Jahr 2017 der Eindruck vor, dass die Bereitschaft zur Entwicklung neuer Ansätze zum Umgang mit Radikalisierung und Gewalt zwar groß, die empirische Fundierung der Maßnahmen meist aber nur dürftig war. An diesem Punkt setzte das Teilvorhaben VI „Bestandsaufnahme und Analyse bestehender Präventionsprojekte“ an, das von der Leibniz Universität Hannover, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie durchgeführt wurde.

Forschungsziele

Ziel des Teilvorhabens war die Erhebung und Durchleuchtung der Präventionslandschaft in den Bereichen Rechtsextremismus und Islamismus. Im Mittelpunkt stand eine systematische Bestandsaufnahme derjenigen Maßnahmen und Projekte, die sich die Prävention von Radikalisierungsprozessen und Gewalt zur Aufgabe gemacht hatten. Darüber hinaus sollten in dem Teilvorhaben Einschätzungen zur Nachhaltigkeit einzelner Maßnahmen gesammelt und Handlungsempfehlungen für die Praxis erarbeitet werden.

Bestandsaufnahme

Bei der Bestandsaufnahme wurden Maßnahmen und Projekte der Extremismusprävention in den Blick genommen, die in den Phänomenbereichen Rechtsextremismus und/oder Islamismus in Deutschland tätig waren und entweder staatlich betrieben oder finanziell gefördert wurden. Dabei wurde der Fokus auf selektive und indizierte Prävention gelegt, wobei die Präventionsprojekte zumindest an Radikalisierungstendenzen anknüpfen sollten, nicht an bloße Risikofaktoren. Zudem wurde eine Einschränkung dahingehend vorgenommen, dass die Projekte zumindest auch im direkten Kontakt mit der Zielgruppe arbeiten sollten.

Im Ergebnis entsprachen am Stichtag (31.01.2018) 96 Projekte der Zielgruppe. Davon beschäftigten sich 41 Projekte mit dem Rechtsextremismus, 44 Projekte mit dem Islamismus und 11 Projekte waren phänomenübergreifend tätig. Die Islamismusprojekte waren zeitlich jüngeren Ursprungs und hatten eine signifikant kürzere Projektlaufzeit als die Projekte im Bereich des Rechtsextremismus. Während mit 60 Projekten die weit überwiegende Zahl zivilgesellschaftlich organisiert war, gab es insgesamt 18 staatliche Projekte sowie 18 Kooperationsprojekte.

Aufbauend auf der Bestandsaufnahme wurde eine Analyse der Präventionslandschaft vorgenommen, wobei die Datengrundlage zum einen aus Projektkonzeptionen sowie zum anderen aus Experten- und Adressaten-Interviews bestand. Insgesamt konnten Informationen zu 45 Projekten gesammelt werden; das entsprach 59 Projektstandorten, da die Projekte teilweise mit der gleichen Konzeption an verschiedenen Standorten arbeiteten. An der Untersuchung beteiligten sich 25 Projekte, die in der Rechtsextremismusprävention tätig waren, 13 Projekte, die im Bereich Islamismus arbeiteten und 7 phänomenübergreifend arbeitende Projekte. Für die Interviewstudie wurden 28 leitfadengestützte und teilstrukturierte Experten-Interviews geführt sowie 15 biografisch narrative Adressaten-Interviews. Das Expertensample umfasste neben Projektleitern und Personen, die direkt in Präventionsprojekten arbeiten, etwa auch Politikberater:innen, Landespräventionsräte, Wissenschaftler:innen sowie weitere zivilgesellschaftliche und sicherheitsbehördliche Akteure.

Die Analyse der Präventionslandschaft ergab, dass die Islamismusprojekte breiter aufgestellt waren als die Rechtsextremismusprojekte. Sie waren häufiger auch auf der Ebene der universellen Prävention tätig und sie adressierten häufiger auch die Allgemeinbevölkerung. Danach gefragt, welchen zentralen Ansatzpunkt die Projekte verfolgten, gaben 69,2 % an, dass sie ganzheitlich arbeiteten, rund ein Fünftel gaben einen Personenfokus an und nur 7,7 % arbeiteten mit einem Fokus auf der eigentlichen Ideologie. Dabei war die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Ideologie der Klienten die von den meisten Projekten durchgeführte Einzelmaßnahme. Weitere häufig genannte Einzelmaßnahmen waren die Biographiearbeit, die Vermittlung politischer, historischer und religiöser Bildung, die Hilfestellung beim Finden unverfänglicher Freizeitbeschäftigungen sowie die Kontaktvermittlung zu anderen Institutionen, etwa die Agentur für Arbeit oder die Drogen- oder Schuldnerberatung. Die Arbeit mit radikalisierten Personen wurde dabei in den Interviews als intensive Beziehungsarbeit beschrieben.

In Hinblick auf den Umgang mit dem Internet in den Projekten konnte zwar ermittelt werden, dass in fast allen untersuchten Konzeptionen (85 %) Medienkompetenztrainings und die Problematisierung des individuellen Internetnutzungsverhaltens eine erhebliche Rolle spielten. Entsprechende Kompetenzen würden in Einzelgesprächen und Workshops vermittelt, wobei auch über Rekrutierungsversuche aus extremistischen Szenen gesprochen werde und eine Auseinandersetzung mit Inhalten stattfinde, etwa indem Musikstücke oder Parteiprogramme analysiert würden. Jedoch bestand zwischen dem in den Konzeptionen niedergelegten Anspruch der Einbeziehung des Internets in die Projektarbeit und der in den Interviews geschilderten Praxis ein deutlicher Gegensatz.

Betrachtete man die Fälle, die in den Präventionsprojekten tatsächlich betreutet wurden, so war auffallend, dass insbesondere im Bereich Islamismus überwiegend mit Multiplikatoren gearbeitet wurde. Tatsächlich flossen in kommunizierte Fallzahlen oftmals auch Nachfragen besorgter Eltern und Lehrer:innen mit ein. Klare Ergebnisse zur Arbeitsbelastung bzw. Leistungsfähigkeit der Projekte konnten nicht ermittelt werden. Abgrenzbare Kriterien für die Bestimmung eines „Falls“, anhand derer die Belastung bzw. Leistungsfähigkeit hätte gemessen werden können, waren nicht feststellbar. Der Beginn und die Beendigung der Betreuungstätigkeit wurden nicht durch fachliche Indikatoren, sondern durch „Gefühl“ bestimmt. Die in der selektiven und indizierten Extremismusprävention tätigen Projekte arbeiteten in der Praxis weniger auf einer durch fachliche Standards geprägten, empirisch abgesicherten konzeptionellen Grundlage als auf einer gefühlsmäßigen Orientierung an den Erfordernissen des Einzelfalls.

Auch zu den Zielen der Betreuungsarbeit konnte die Untersuchung einige Erkenntnisse gewinnen. Danach gefragt, welche Umstände eingetreten sein müssten, damit der Abschluss eines Betreuungsverhältnisses als erfolgreich betrachtet werde, gaben 92,3 % eine Distanzierung vom extremistischen Milieu an, 84,6 % der Projekte forderten eine Loslösung von der extremistischen Ideologie und 76,2 % hielten eine Abkehr von kriminellen Handlungen für erforderlich. Daneben wurden aber auch weichere Faktoren genannt, etwa die Anerkennung der freiheitlich demokratischen Grundordnung, die erfolgreiche Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, dem eigenen Wertesystem und Verhalten, eine psychische Stärkung im Sinne einer gefestigten Persönlichkeit oder eine Stabilisierung der Lebenssituation. Aus der Interviewstudie ging hervor, dass insgesamt eine starke Subjektivierung der Arbeit stattfand. Es sei ein „Gefühl“, das einsetze, wenn jemand wirklich ausgestiegen sei. Erfahrungsschatz und Menschenkenntnis wurden in den Interviews oftmals vor harte Faktoren gestellt.

Nachhaltigkeit

Im Rahmen des Teilvorhabens wurde darüber hinaus auch eine Untersuchung zur Nachhaltigkeit der ergriffenen Maßnahmen durchgeführt. Hierbei wurde versucht die Wirkungen der Präventionsarbeit über einen Fragebogen abzufragen, der an die Projektverantwortlichen gerichtet wurde. Insgesamt beteiligten sich an diesem Teil der Untersuchung 25 Projekte, davon 6 staatliche Projekte, 17 zivilgesellschaftliche Projekte sowie 2 Kooperationsprojekte. 13 dieser Projekte arbeiteten zur Prävention von Rechtsextremismus, 7 in der Islamismusprävention und 5 phänomenübergreifend.

Die Ergebnisse zu den präventiven Wirkungen der von den Projekten geleisteten Arbeit sind mit vielfältigen methodischen Vorbehalten belastet. Dessen ungeachtet lässt sich feststellen: Nach ihrer Selbsteinschätzung arbeiteten die Projekte erfolgreich. Unabhängig vom adressierten Phänomenbereich gab es mehr Personen, bei denen die Betreuung erfolgreich abgeschlossen wurde, als Personen, bei bzw. von denen sie abgebrochen wurde. Die erzielten Erfolge waren nachhaltig. Die Projekte schätzten, dass mehr als die Hälfte der ehemaligen Klienten auch nach drei Jahren extremistischen Szenen fernblieb, keiner extremistischen Ideologie mehr anhing und keine Straftaten mehr beging.

In der Extremismusprävention scheinen dabei zum Teil Zusammenhänge zu wirken, die auch in der allgemeinen Kriminalprävention bekannt sind. Es fanden sich signifikante Hinweise, dass Projekte, die nach ihrer Konzeption auch die Angehörigen der Klienten in ihre Arbeit einbezogen, eine geringere Abbrecherquote zu verzeichnen hatten. Dies sprach dafür, dass die Angehörigen den Ausstiegswilligen in seinem Vorhaben bestärkten und somit für die notwendige Stabilisierung, die dem Betroffenen zumindest das Durchstehen der Betreuungsphase ermöglichte, eine wesentliche Rolle zu spielen schienen. Für eine erfolgreiche Betreuung schien insbesondere die Einbeziehung des sozialen Umfelds wesentlich zu sein. Dieser statistisch ermittelte Befund wurde in den geführten Experteninterviews bestätigt.

Handlungsempfehlungen

Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse wurden vom Verbund Handlungsempfehlungen für die Praxis erarbeitet. Zu den wichtigsten Empfehlungen des von der Leibniz Universität Hannover betreuten Teilvorhabens VI gehören die folgenden drei Punkte:

  • Die Radikalisierungs- und Extremismusprävention sollte auf der Grundlage klar definierter fachlicher Standards erfolgen, in denen zumindest die Indikationen für die Übernahme einer Ausstiegsbegleitung, die Ziele der Arbeit, die Erfolgskriterien und deren Indikatoren, die Methoden, Prozesse und Verfahren, die Voraussetzungen für den Abbruch der Maßnahme sowie die Notwendigkeit der Qualitätskontrolle festgeschrieben werden.
  • Einrichtungen, die nachweisbar wirksame Arbeit leisten, sollten verstetigt und in die Regelstrukturen übernommen werden.
  • Ob in der Radikalisierungs- und Extremismusprävention wirksame Arbeit geleistet wird, sollte regelmäßig durch externe Einrichtungen überprüft werden.

Publikationen