BVerfG, Beschluss vom 05.09.2022 – 1 BvR 65/22

Bestehen im Einzelfall Anhaltspunkte dafür, dass die Rückführung eines Kindes zu den Eltern mit Gefahren für dieses verbunden ist, hat es einen An­spruch auf staat­li­chen Schutz.

Leitsätze aus dem Urteil:

  1. Kinder haben nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können.
  2. Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht unter dem besonderen Schutz des Staates (...). [Rn. 17]
  3. Diese Schutzverantwortung für das Kind teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. In erster Linie ist sie den Eltern zugewiesen; nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung die zuvörderst den Eltern obliegende Pflicht. Dem Staat verbleibt jedoch eine Kontroll- und Sicherungsverantwortung dafür, dass sich ein Kind in der Obhut seiner Eltern tatsächlich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit entwickeln und gesund aufwachsen kann (...). [Rn. 17]
  4. Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das „Wächteramt des Staates“ nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zum Tragen. [Rn. 18]
  5. Der Staat kann verfassungsrechtlich berechtigt (Art. 6 Abs. 3 GG) und verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) sein, zur Wahrung des Kindeswohls die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten. Das ist dann der Fall, wenn das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (...). [Rn. 20]
  6. Stellt sich die Frage der Trennung des Kindes von seinen Eltern oder des Aufrechterhaltens einer Trennung zur Abwendung einer nachhaltigen Kindeswohlgefährdung, besteht wegen des sachlichen Gewichts der teils parallelen, teils gegenläufigen Grundrechte der Beteiligten Anlass, über den grundsätzlichen Prüfungsumfang hinauszugehen, zumal die Entscheidung über eine Trennung für alle Beteiligten von existenzieller Bedeutung sein kann (...). [Rn. 23]
  7. Dies gilt auch, wenn das Bundesverfassungsgericht zu überprüfen hat, ob die Ablehnung einer Trennung des Kindes von seinen Eltern mit der Pflicht des Staates zum Schutz des Kindes vereinbar ist. Bei dieser Sachlage können neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (...).[Rn. 23]
  8. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich ausnahmsweise auch auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts (...).[Rn. 23]

Urteil frei zugänglich.