BVerfG, Urteil vom 26.04.2022 – 1 BvR 1619/17

Das Bayerische Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) ist teilweise verfassungswidrig. Unter anderem die Vorschriften zur Wohnraumüberwachung sowie zur Online-Durchsuchung wurden vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt.

Amtliche Leitsätze:

  1. Dass Verfassungsschutzbehörden nach geltendem Recht spezifische Aufgaben der Beobachtung und Vorfeldaufklärung wahrnehmen und dabei nicht wie Polizeibehörden über operative Anschlussbefugnisse verfügen, rechtfertigt es grundsätzlich, Überwachungsbefugnisse einer Verfassungsschutzbehörde an modifizierte Eingriffsschwellen zu binden. Dann muss aber eine Übermittlung der daraus erlangten personenbezogenen Daten und Informationen strengen Voraussetzungen unterliegen.
  2. Wie streng die Verhältnismäßigkeitsanforderungen an heimliche Überwachungsmaßnahmen einer Verfassungsschutzbehörde im Einzelnen sind, bestimmt sich nach dem jeweiligen Eingriffsgewicht.
    a) Maßnahmen, die zu einer weitestgehenden Erfassung der Persönlichkeit führen können, unterliegen denselben Verhältnismäßigkeitsanforderungen wie polizeiliche Überwachungsmaßnahmen.
    b) Ansonsten muss die Überwachungsbefugnis einer Verfassungsschutzbehörde nicht an das Vorliegen einer Gefahr im polizeilichen Sinne geknüpft werden. Vorauszusetzen ist dann aber ein hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf. Dieser ist nur gegeben, wenn die Überwachungsmaßnahme zur Aufklärung einer bestimmten, nachrichtendienstlich beobachtungsbedürftigen Bestrebung im Einzelfall geboten ist und hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Beobachtungsbedürftigkeit vorliegen. Diese muss umso dringender sein, je höher das Eingriffsgewicht der Überwachungsmaßnahme ist. Der Gesetzgeber muss die Maßgaben zur jeweils erforderlichen Beobachtungsbedürftigkeit hinreichend bestimmt und normenklar regeln. Besondere Anforderungen bestehen, wenn Personen in die Überwachung einbezogen werden, die nicht selbst in der Bestrebung oder für die Bestrebung tätig sind. Je nach Eingriffsintensität der Maßnahme kann es erforderlich sein, diese vor ihrer Durchführung einer Kontrolle durch eine unabhängige Stelle zu unterziehen.
  3. Die Übermittlung personenbezogener Daten und Informationen durch eine Verfassungsschutzbehörde an eine andere Stelle begründet einen erneuten Grundrechtseingriff. Dessen Rechtfertigung ist jedenfalls, wenn die Daten mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, nach dem Kriterium der hypothetischen Neuerhebung zu beurteilen. Danach kommt es darauf an, ob der empfangenden Behörde zu dem jeweiligen Übermittlungszweck eine eigene Datenerhebung und Informationsgewinnung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln wie der vorangegangenen Überwachung durch die Verfassungsschutzbehörde erlaubt werden dürfte. Eine Übermittlung durch eine Verfassungsschutzbehörde setzt stets voraus, dass dies dem Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts dient. Die Anforderungen an die Übermittlungsschwelle unterscheiden sich hingegen danach, an welche Stelle übermittelt wird.
    a) Die Übermittlung an eine Gefahrenabwehrbehörde setzt voraus, dass sie dem Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts dient, für das wenigstens eine hinreichend konkretisierte Gefahr besteht.
    b) Die Übermittlung an eine Strafverfolgungsbehörde kommt nur zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten in Betracht und setzt voraus, dass ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht vorliegt, für den konkrete und verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorhanden sind.
    c) Die Übermittlung an eine sonstige Stelle ist nur zum Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts zulässig. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Übermittlungsschwelle unterscheiden sich nach dem Eingriffsgewicht, das auch davon abhängt, welche operativen Anschlussbefugnisse die empfangende Behörde hat. Eine Übermittlung an eine Verfassungsschutzbehörde kommt in Betracht, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie die Information zur Aufklärung einer bestimmten, nachrichtendienstlich beobachtungsbedürftigen Aktion oder Gruppierung im Einzelfall benötigt.
    d) Für die Übermittlung ins Ausland gelten die gleichen Anforderungen wie für die inländische Übermittlung. Außerdem setzt sie einen datenschutzrechtlich angemessenen und mit elementaren Menschenrechtsgewährleistungen vereinbaren Umgang mit den übermittelten Informationen im Empfängerstaat und eine entsprechende Vergewisserung voraus.
  4. Das Gebot der Normenklarheit setzt der Verwendung gesetzlicher Verweisungsketten Grenzen. Unübersichtliche Verweisungskaskaden sind mit den grundrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar.

Urteil frei zugänglich.